Hält deine Vergangenheit dich zurück?

Ich konnte ihren erschöpften Gesichtsausdruck schon von Weitem erkennen, als Laura an dem Tag zu einem Beratungstermin kam. Ihre müden Augen wurden durch ein höfliches, aber erschöpftes Lächeln umrahmt. Sie fühlte sich leer und wusste nicht, wo sie beginnen sollte. Sie war unzufrieden und wusste nicht, wie sie ihre Freude zurückgewinnen sollte. Sie hatte so viel gegeben und gegeben und gegeben, sich um alles und jeden in ihrem Umfeld gekümmert - ihre kranken Eltern, ihren sich abmühenden Bruder, um ihre einsamen Familienmitglieder – aber jetzt hatte sie das Gefühl nichts mehr geben zu können.

Sie kämpfte mit einem Burnout, Depressionen und dem Empfinden, dem allem nicht mehr gewachsen zu sein. Ihr Leben fühlte sich in jedem Bereich, angefangen bei ihrer Arbeit, bis hin zu ihrer Familie und ihrem Gemeindedienst, einfach nur stressig an.

Ich bat sie, mir zu erzählen, seit wann sie denn diese „Fürsorge-Rolle“ angenommen habe und sie antwortete: „Ich schätze, ich bin schon mein ganzes Leben so – wahrscheinlich schon seit ich ein kleines Mädchen war. Als die Älteste von 5 Kindern, mit geschiedenen Eltern, habe ich einfach gelernt, mich um alle zu kümmern ... aber nie, wie ich mich um mich selbst kümmere.“

Mit diesen Worten hatte Laura, ohne es zu bemerken, gerade ein paar Schritte in die richtige Richtung getan. Da sie begonnen hatte, ein paar Dinge aus ihrem bisherigen Leben in Verbindung mit ihrer heutigen Situation zu bringen, die uns helfen würden, ihre Unsicherheit, den Schmerz und die Ablehnung zu konfrontieren, die sie aus ihrer Vergangenheit noch im Hier und Jetzt zurückhielten.

ZURÜCKGEHEN, UM VORWÄRTS ZU GEHEN

Ich glaube, dass nicht viele Menschen ein richtiges Verständnis davon haben, wie sehr unsere Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst. So viel davon, wie wir in der Gegenwart unser Leben leben, ist von unseren Erfahrungen aus der Vergangenheit beeinflusst.

Wer du damals warst, hat Auswirkungen darauf, wie du heute bist. Die Erfahrungen, die du in der Vergangenheit gemacht hast, beeinflussen, wer du heute bist. Die Art und Weise, wie der Umgang mit deinen Eltern, deinen Freunden und mit deiner Familie war; deine Persönlichkeit als Kind, deine Erfahrungen, deine Erinnerungen – die Guten, wie die Schlechten – haben dich zu der Person geformt, die du heute bist.

Die Geschichte deiner Vergangenheit formt die Geschichte deiner Gegenwart. Viele unserer Geschichten kommen mit Freude, schönen Erinnerungen und positiven Erfahrungen. Aber viele andere Geschichten sind durchsetzt mit Ablehnung, Erfahrungen des Verlassenwerdens, Angst, Missbrauch, Süchten und vielem mehr. Aber egal, wie unsere Vergangenheit ausgesehen hat, wenn wir uns nicht bewusst sind, wie diese uns geformt hat, werden wir, genau wie Laura, immer wieder und wieder in den gleichen Mustern stecken bleiben.

ZURÜCKVERFOLGEN

Wenn du jemals einen Beratungstermin bei mir buchst, sollte dir bewusst sein, dass wir jede Menge Zeit damit verbringen werden über die Vergangenheit zu reden. Eines der ersten Dinge, um die ich dich bitten werde, ist, mir einen Zeitstrahl zu zeichnen, auf dem du die wichtigsten Momente deines Lebens vermerkst. Angefangen mit deinen frühesten Erinnerungen, dir bewusst machend, welche Erfahrungen dich in negativer und positiver Weise geformt haben, bis hin zum heutigen Tag.

Warum begleitest du mich nicht in diesem Prozess? Stell dir vor, du hast einen Beratungstermin bei mir. Schnappe dir deinen Laptop, dein Tagebuch oder ein Stück Papier und einen Stift und beginne deinen eigenen Zeitstrahl aufzuzeichnen. Denk an die Momente in deinem Leben, die reale Auswirkungen auf dich hatten oder sogar den Verlauf deines Lebens verändert haben, von deiner Kindheit an, bis heute. Denke über die bedeutsamen Höhen und Tiefen in deinem Leben nach, die dich bisher geprägt und zu dem gemacht haben, wer du heute bist.

Vielleicht hast du in deiner Kindheit mit spezifischen Ängsten und Sorgen zu tun gehabt. Vielleicht musstest du zuschauen, wie deine Eltern durch einen schwierigen Scheidungsprozess gegangen sind. Wie steht es mit dem Tag, an dem du Jesus kennenlerntest, oder mit dem unglaublichen, lebensverändernden Sommer-Camp oder mit den paar schwierigen Klassenkameraden, die du während deiner Schulzeit aushalten musstest? Es kann alles Mögliche gewesen sein, vom Umgang mit schwierigen Eltern über den Besuch einer neuen Gemeinde bis hin zum Nichtbestehen der Aufnahmeprüfung an der Hochschule. Es könnte der Tod einer nahestehenden Person sein oder vielleicht sogar das Ende eines Traums. Vielleicht war es der Schmerz einer ungesunden Beziehung, Erfahrungen, die du in deiner Ehe gemacht hast oder sich mit Unfruchtbarkeit auseinandersetzen zu müssen.

Es gibt so viele verschiedene Dinge, die dein Leben prägen und dich zu der Person formen, die du heute bist. Nimm dir Zeit über all diese Dinge nachzudenken und schreibe sie in chronologischer Reihenfolge auf, beginnend mit deinen frühesten prägenden Erinnerungen. Zur besseren Veranschaulichung finde ich es hilfreich, die positiven Erinnerungen entlang einer aufwärts führenden Linie neben dem Zeitstrahl aufzuschreiben und die negativen Erinnerungen entlang einer abwärts führenden Linie. Wenn du mein Klient wärst, wäre dieser Zeitstrahl das, mit dem wir uns bei unserem ersten gemeinsamen Treffen beschäftigen würden. Wir würden über jedes bedeutsame Ereignis reden, versuchen Verbindungen des Einen mit dem Anderen herzustellen und die Auswirkung und Bedeutung auf dein heutiges Leben und deine Entwicklung herauszufinden. Denn ob du es nun glaubst oder nicht, jeder Abschnitt deines Lebens zählt.

Immer mal wieder habe ich Klienten, die sich damit lieber nicht auseinandersetzen möchten.

„Was hat die Vergangenheit mit dem zu tun, was ich heute durchmache?“, fragen sie.

„Alles“, antworte ich.

Die meisten Menschen verstehen nicht wirklich, was für eine wichtige Rolle ihre Vergangenheit darin spielt, ihre emotionale Gesundheit zu prägen. Aber ich glaube wirklich, dass die meisten unserer heutigen Probleme in den Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, wurzeln. Wenn wir uns nur auf die Gegenwart konzentrieren, ohne jemals in die Vergangenheit zu schauen, sind wir wie ein Gärtner, der nur den oberen Teil des Unkrauts ausrupft, ohne die Wurzel mit herauszuziehen. Es wird uns nur kurzzeitige Erleichterung bringen. Dieses Unkraut wird immer wieder hochkommen, bis wir es mit der Wurzel herausreißen können.

In Philipper 3,13 erinnert Paulus uns daran: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt.“ Unser Problem als menschliche Wesen ist, dass wir aber nicht einfach „vergessen“ können, es sei denn, wir erkennen an, was in unserer Vergangenheit passiert ist, fangen an es zu verstehen und lernen daraus. Damit die Vergangenheit ihre Macht über uns verliert, müssen wir erst zurückgehen, um dann vorwärtsgehen zu können. Wir müssen uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, um von ihr befreit werden zu können.

KONFRONTIEREN VERSUS FIXIEREN

So oft bleiben wir stecken, denn statt uns unserer Vergangenheit zu stellen und sie zu konfrontieren, fixieren wir uns darauf. Wir sinnieren, verweilen und grübeln über die Dinge nach, die wir hätten tun sollen oder tun würden oder anders hätten tun können, wenn wir noch eine Chance gehabt hätten.

Uns unserer Vergangenheit zu stellen, ist nicht das Gleiche, wie uns darauf zu fixieren. Das Erste bewegt dich vorwärts, durch das Letztere bleibst du stecken.

Das Eine bewegt uns dahin zu verstehen, wie unsere Vergangenheit uns geformt hat, um Freiheit in Gottes Wahrheit zu finden. Das Andere lähmt uns durch Gefühle der Scham und Reue.

Durch das Eine blicken wir bewusst zurück, um zu heilen. Das Andere wird zu zwanghaftem Grübeln, das nur noch mehr Verletzungen und Schmerz verursacht.

Meine Frage an dich ist: Hast du dir jemals die Zeit genommen, dich deiner Vergangenheit zu stellen oder hast du dich einfach nur auf sie fixiert?

Die Antwort auf diese Frage könnte alles verändern. Denn zurückzugehen, mag genau das sein, was dich dann letztendlich vorwärts bewegt.